Philipp Junghans
So ganz MENSCHlich
 

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In meinem Blog verzichte ich zugunsten einer besseren Lesbarkeit auf eine Doppelnennung und gegenderte Bezeichnungen. Die Personenbezeichnungen beziehen sich immer (sofern nicht besonders gekennzeichnet) gleichermaßen auf weibliche, männliche und diverse Personen.


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20.01.2024

German Herz

„Du bist aber deutsch!“ Ist das ein Kompliment oder eine Beleidigung? Und was heißt das überhaupt? Darf ich „das Deutsche“ gut finden oder ist das eher peinlich? Manche zucken ehrfürchtig zusammen, wenn sie hören man kommt aus Deutschland, andere fragen lieber nicht weiter … „Ach so, na ja.” Sind wir etwa die Streber der Klasse? Leise bewundert und auf dem Schulhof alleine in der Ecke?

It´s a question of identity - Wer bin ich? Wo komme ich her? Wo gehe ich hin? Zentrale Fragen des (deutschen) Gehirns und mit unserer Geschichte so eng verknüpft wie Bratwurst, Goethe und Heidi Klum. Kann es sein, dass wir Deutschen Angst vor uns selbst haben? Die German Angst vor allem? Uns kann man doch nicht trauen. Wir tragen Sandalen mit Socken ohne rot zu werden. Im Süden und Norden Europas drehen sich die Mägen um. Es ist halt praktisch - luftig und warm gleichzeitig. Wir lieben es praktisch und funktional. Deswegen tragen wir auch Wanderfunktionskleidung zum Spaziergang.

Aus diesem Grund leisten wir uns ein hocheffizientes, bürokratisches System. Danach lecken sich andere Nationen die Finger. Auch wenn es manchmal weniger funktional ist als gewünscht. Es ist inzwischen vielleicht überfunktional und hat sich selbst eingeholt. Wir sind auch stolz auf unsere Ingeniöre (also Ingeneure, also ich meine die studierten Fachleute auf technischen Gebieten). Überhaupt wir lieben schlau und intelligent. Wir lieben auch fleißig und aufopfernd … Ach nee, das war nicht ganz so gut. Wir lieben unser Eigenheim und wir lieben es Schulden zu tilgen. Schuld zu reduzieren … unsere Schuld abbauen.

Wir sind getrieben, immer auf der Suche nach dem Nächsten. Rennen unseren Ansprüchen hinterher, die so oft hoch und unerfüllbar sind. Wir lieben Camping, Skat und Kreuzworträtsel. Wir lieben Schokolade, Bier (gibt es eigentlich schon Schokobier?), bunte Fernsehshows, genügsame Politiker, Filterkaffee, Hausmannskost und den Wetterbericht. Wir lieben es zu grillen, nackt am Wasser zu liegen und nackt in die Sauna zu gehen. Wir gehen gerne in den Baumarkt und bauen alles selbst, auch wenn wir keine Ahnung haben. Wir lieben es zu sammeln und ganz viel zu horten. Es könnten ja wieder schlechte Zeiten kommen.

Mir scheint, als schätzten wir in diesem Deutschsein verschiedene Prozesse und materielle Aspekte, die mit diesen Prozessen einhergehen, manchmal mehr, als den eigentlichen Menschen. Das ist wohl eine verbreitete Tendenz in Zeiten fortschreitender Digitalisierung und internetbasierter Sozialstruktur. Und doch scheinen gerade wir in Deutschland ein zwiespältiges Verhältnis zur Gattung Mensch zu haben. Wir sind zwar oft gesellig, hängen aber auch gerne auf der Couch in unseren vier Wänden ab und schimmeln vor uns hin. Vielleicht ist dieser Rückzug zu uns selbst oft ein Nährboden für unsoziale Gedankeneruptionen, denn oft tanzen wir ein Tänzchen mit Abwertung, Leugnung, Selbstüberschätzung und blankem Narzissmus. Ein zusätzliches, reales Gespräch mit einem lebenslustigen, erfüllten und herzlichen Menschen würde da sicher manchmal helfen.

Exkurs

Im Rausch eines überhöhten Deutschland-Fanatismus haben wir die Welt zur Zeit der Nazidiktatur ins Wanken gebracht. Dass wir diesen Wahnsinn bis heute nicht wirklich verarbeitet haben, dass das schiere Ausmaß für ein einzelnes Gehirn zu viel sein kann, ist wohl nachvollziehbar. So etwas braucht Zeit. Sich gar nicht damit zu befassen, führt jedoch unweigerlich zu dem, was wir heute wieder vielfach beobachten können. Viele sehnen sich auf der Suche nach einer Alternative für Deutschland wieder nach einer vermeintlich starken Führung. Sie wollen wieder, dass jemand ihnen die Welt klar in Schwarz und Weiß einteilt, Gut und Böse, die Heimischen und die Eingedrungenen, wir und die. Das ist leichter zu verstehen und löst viele Denkprobleme in einem Abwasch. Wer nicht passt, muss gehen und wer nicht geht, kommt weg. Klar und einfach. Dass dieses Konzept allerdings bereits vor 80 Jahren katastrophale Konsequenzen nicht nur für Deutschland, sondern für sehr sehr sehr sehr sehr viele Menschen auf der ganzen Welt hatte, wird dabei gerne übersehen. Die Welt ist heute sicher komplex, verschachtelt und oft schwer. Sie ist aber auch miteinander verbunden und aufeinander angewiesen. Es gibt nicht mehr nur das Land oder jenes Land, nicht mehr nur die von dort und die von woanders.

Wer sich auch nur ansatzweise mit dem Ursprung von Deutschland beschäftigt, wird gleich in Kapitel eins feststellen, dass die Gründung eines Deutschen Landes nicht aus einem einzigen Deutschtum, oder nennen wir es Deutschsein, entstand. Es entstand aus verschiedenen Königreichen, Hansestädten, Provinzen, Herzogtümern und Fürstentümern mit jeweils unterschiedlichen Traditionen, Sprachformen, Leibgerichten und Denkmustern. Die Grundidee war nicht, in Deutschland alles gleich zu machen, also die Sachsen zu den Bayern, oder die Berliner zu den Ostseeliebhabern, sondern alle miteinander zu verbinden und allen einen gemeinsamen Raum zu geben. Wer also heute sagt, wir müssen zu „dem Deutschen“ zurück und alles andere muss weg, richtet sich komplett gegen das, was Deutschland im Ursprung ausmacht und schon immer ausgemacht hat. Nämlich die Überwindung von Unterschieden und nicht die Verstärkung von Spaltung und Ausgrenzung von dem, was anders ist.

Es ist Deutschlands Schicksal, Kraft aus seinen Unterschieden heraus zu gewinnen. Deutschland wird hoffentlich nie wieder ein Land sein, welches Entscheidungen aus einem einzelnen Ursprung heraus entwickelt. Sogenannte “Alternative” Parteien, die sich Deutsch nennen, bilden in Wirklichkeit nur einen Bruchteil von Deutschland ab. Sie konterkarieren das, was Deutschland eigentlich ist. Vielmehr beuten sie die Sehnsucht nach einer „einfachen“ Einheitlichkeit aus, die schon lange vorbei ist und hoffentlich ein Teil der Geschichte ist. Es kann in Zukunft nur eine „komplexe“ Einheitlichkeit geben, die auf höherer Ebene entsteht. Miteinander sprechen, miteinander diskutieren, Kompromisse finden, aufeinander zugehen, voneinander lernen, Kompetenzen ergänzen und wo es wichtig ist, auch mal angemessen Grenzen setzen. Unsere Grundbedürfnisse nach Sicherheit und Geborgenheit können nur miteinander erfüllt werden, nicht durch kämpfen und ausgrenzen.

Ende Exkurs

Doch kommen wir zurück zum eigentlichen Thema. Wir Deutschen scheinen oft unsicher, worauf wir unsere Liebe richten sollen. Wir wirken verraten und enttäuscht. Zu oft allein gelassen - fahren gefühlt nur mit halber Kraft. Wir sind die ewig Suchenden, erfüllt mit Sehnsucht nach Erfüllung und Nestwärme. Wir sind die selten Ankommenden. Das macht uns romantisch, anfällig für Missbrauch und ein wenig verloren. Wir liebten die Natur, die Kultur, das Wissen, unsere großen und kleinen Städte, den Führer, Deutschland, den Tod, das Nicht- lieben, Autos, Alkohol, Fußball, Technik, den Konsum, das Geld, die Macht, das dauernd-unerschöpflich Verfügbare. Wir haben uns auch mit dem Teufel persönlich eingelassen. Wir haben seinen Platz eingenommen und Kinder in Asche verwandelt.

Was wir heute (wieder) lieben könnten mit unserer ganzen Kraft: die Natur, das reduzierte, sinnstiftende Leben, den Menschen in all seinen Facetten, die Hilfsbereitschaft, die Kreativität, die Welt (im Sinne ihrer Vielfalt), praktisches Handeln, eine Kultur der Gegenseitigkeit und der Geselligkeit, die große und die kleine Liebe. Wir könnten uns wieder selbst lieben, wir könnten uns verzeihen, unseren Eltern, unseren Lehrern, unseren Göttern und Götzen. Wir könnten ihnen danken, dass sie uns Orientierung schenkten, als wir sie selbst noch nicht hatten. Wir könnten ihnen auf Wiedersehen sagen, da wir die Orientierung in uns selbst gefunden haben. Wir könnten zu uns finden und wir selbst sein. Wir könnten uns wichtig nehmen, ohne uns als Zentrum des Universums zu betrachten. Wir könnten unsere Geschichte besser kennen lernen und mehr Verantwortung dafür übernehmen. Wir könnten insgesamt ein wenig langsamer machen und auch die nicht so Schnellen mitnehmen.

Es ist schwer das deutsche Herz zu definieren, es zu begreifen. Es steht unter Strom und sucht nach einer Lösung … keine End-lösung, sondern eine Er-lösung.
Dürfen wir nach Erlösung suchen? Haben wir um Vergebung gebeten? Tun wir genug der Buße? Das German Herz bittet um Vergebung und sucht nach einem Ort, wo es wieder lieben darf. 

Deutsch-sein bedeutet oft kompliziert, ambivalent, hin und her gerissen. Wir hantieren mit den Todsünden, als spielten wir eine Runde Kniffel. Und weil es so fetzt, spielen wir gleich sechs Runden parallel. Wir beneiden unsere Nachbarn, geben es nur nicht gerne zu. Sie nehmen vieles leichter als wir. Uns erscheint vieles schwer. Wir sind stolz, trotzig, überzeugt und entschlossen. Und machen es deswegen trotzdem … Mit dem Trotz zum Trotz.

Generell sollten wir unsere Menschen wieder wertschätzen. Ich meine damit die Jungen und die Alten, die Gesunden, die Kranken, die Heimischen und die Fremden. Ich meine die Erzieher und Lehrer, die Ärzte und Pfleger, die Reinigungskräfte und Müllfahrer. Die Menschen, die sich um die Menschen kümmern. Ich meine die Organisatoren von Kultur und die Erschaffer von Kunst. Deutschland ist viel mehr als das, was wir verkaufen können. Deutschland ist vor allem ein Land mit engagierten, kreativen, vielfältigen, mutigen, aufopferungsfähigen (damit meine ich bescheidene) Menschen. Darauf sollten wir stolzer sein und das sollten wir diesen Menschen hin und wieder auch zeigen. Es ist nicht selbstverständlich menschlich zu sein. Es kostet Kraft, Kraft die viele bereit sind zu geben, ohne dass sie dafür Geld bekommen. Schenken wir weiter, jeder für jeden!

Wir sind schon ein gutes Stück gekommen. Lassen wir den Ball nicht fallen, sondern jonglieren wir weiter! Wir lieben wohl ein wenig von allem. Gerne auch mal ein bisschen mehr und manchmal auch zu viel. Wir sind das Land mit German Herz – darin leben Menschen mit freiem Geist und starken Händen!

© [01|24|PhilippJunghans]

Admin - 19:57 | 2 Kommentare

  1. Ulrich B.

    21.01.2024

    Dass wir andere Menschen wieder wertschätzen sollten, ist ein schöner Wunschtraum. Tatsächlich verlangte dies, endlich Verständigung über die Menschheit zu bringen, um sie zu Erkenntnis zu führen, zu Weisheit und Liebe. Aber wer uns in der Vergangenheit mit solchen Zumutungen kam, den haben wir eher ans Kreuz genagelt. Heute erfreut sich im Lande eine Partei größten Zulaufes, die mit Haß, Neid, Lüge und Verleumdung agitiert und das Versprechen bietet, ihre Wähler endlich von der unerträglichen Zumutung zu befreien, allen Menschen gleiche Rechte zubilligen zu müssen. Und siehe, unter den Emotionen, die die Menschheit in den asozialen Geifermedien ebenso wie bei solcherart Rattenfängern am wirkungsvollsten bei der Stange hält, ist die Liebe wahrlich nicht die größte. Sie ist genaugenommen noch nicht einmal vertreten.

  2. Carsten

    07.02.2024

    Ach, Philipp.
    Wirklich schön, eigensinnig.
    Echt cooles Tempo, sich selbst wieder einholen und bremsen. Gut gelungen mit passenden zwinker-Auge

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